CORTONA VI
September 1992

Cortona-Woche der ETH Zürich über Naturwissenschaft und die Ganzheit des Lebens
Grenzüberschreitungen zwischen Wissenschaft und Religion
Kurt Dressler


In der Cortona-Woche 1991 haben zwei der Referenten - ein Naturwissenschafter und ein Theologe - betont, wie wichtig es ist, eine neue Sprache zu entwickeln, welche die Bereiche der Naturwissenschaft und der Religion miteinander vereinigt: (1) Hans Primas hat in seinem Vortrag eindrücklich beschrieben, wie Wolfgang Pauli, neben Einstein wohl der brillanteste Physiker des 20. Jahrhunderts, lange und intensiv - aber ergebnislos - nach einer gemeinsamen Sprache des Rationalen und des Ausserrationalen suchte.
(2) Auch Bruder David Steindl-Rast ist in seinem Schlussvortrag davon ausgegangen, dass die gemeinsame Sprache von Wissenschaft und Religion noch nicht existiere, dass ihre Entwicklung höchst schwierig zu sein scheine, und dass wir alle an diesem Problem arbeiten sollten. Ansätze zu einer Verknüpfung der Symbolik der exakten Wissenschaft mit derjenigen der Psychologie böten sich möglicherweise in der Astrologie oder im Eneagramm.

Ganz im Gegensatz dazu glaube ich, dass diese Sprache, welche Wissenschaft und Religion vereinigt, existiert, dass sie einfach zu erläutern ist, und dass wir unsere Anstrengungen darauf verwenden sollten, sie zu praktizieren. Natürlich müssen wir, damit wir uns glaubwürdig in dieser Sprache ausdrücken können, selbst Wissenschafter sein und eine echte Religiosität praktizieren.

Zahlreiche Naturwissenschafter, Philosophen und Theologen schreiben und sprechen über Wissenschaft und Religion, aber offensichtIich haben die meisten von ihnen ihre eigene Religiosität nicht bis zu der Tiefe entwickelt, wo sie die zentrale Wahrheit der Religion - oder was die 'Religion in den Religionen' genannt worden ist - entdeckt hätten.

In seinem Buch 'Religion in an Age of Science' (Harper 1999) vertritt Ian G. Barbour die Ansicht, dass Wissenschaft und Religion zueinander in einer von vier Beziehungen stehen:
Die folgenden Bemerkungen stützen sich auf eine Rezension dieses Buchs (durch Eugene E. Selk) im American Journal of Physics:

Konflikt: Dieser Standpunkt hält an unvereinbaren Konflikten zwischen Wissenschaft und Religion fest. Von Seiten der Wissenschaft lautet er: Die wissenschaftliche Methode stellt den einzigen zuverlässigen Weg zu echter Erkenntnis dar (Carl Sagan, Jacques Monod, E.O. Wilson) und Religion gehört in den Bereich des Mythos und der Dichtung. Von Seiten der Religion lautet der Standpunkt des Konflikts: Die Heilige Schrift enthält wörtlich zu nehmende Aussagen über die Natur und manche davon sind mit Behauptungen der Wissenschaft unvereinbar.  Beide Seiten sind im falschen Dilemma befangen, man müsse zwischen Wissenschaft und Religion wählen.

Unabhängigkeit: Konflikte zwischen Wissenschaft und Religion müssen vermieden werden; sie gehören zu ganz verschiedenen Domänen und verwenden verschiedene Methoden (Thomas Torrance, George Lindbeck).  Ein Konflikt ist prinzipiell unmöglich. (VgI. auch Emil Brunners 'Offenbarung und Vernunft')

Dialog: Zwischen Wissenschaft und Religion bestehen methodische Ähnlichkeiten und es gibt Behauptungen über die Wirklichkeit (z.B. theologische Schöpfungslehren und wissenschaftliche Kosmologien), bei welchen sich die beiden zum Teil decken mögen (Ernan McMullin, Karl Rahner, David Tracy).

Integration: Eine gewisse Synthese zwischen Wissenschaft und Religion ist möglich (Teilhard de Chardin, John Cobb, Arthur Peacocke).

Barbour vertritt eine Kombination von Dialog und Integration. Der Glaube religiöser Gemeinschaften und wissenschaftliche Theorien können nach ähnlichen Kriterien beurteilt werden: Übereinstimmung mit Erfahrung, Zusammenhang, Umfang, Fruchtbarkeit; Die Theologie muss akzeptieren, dass die Welt der Natur einen dynamischen; evolutionären Prozess mit einer langen Geschichte des Hervortretens von Neuem darstellt, der durch Gesetz und Zufall charakterisiert ist. Wissenschaft und Religion können durch Prozess-Metaphysik (Alfred North Whitehead, Charles Hartshorne) integriert werden. Diese betont Wandlung, Zufall, In-Erscheinung-Treten (emergence) anstatt Reduktionismus, und sie konzipiert Gott als in der Welt mit schöpferischer Partizipation und Überzeugungskraft handelnd. Anstatt einer Schöpfung aus dem Nichts wird ein ewiges Neu-Hervortreten neuer Formen bevorzugt: Die Menschen sind sowohl in der Natur verwurzelt als im Bilde Gottes. Sie sind gesellschaftliche, gefallene, Geist und Körper vereinigende Wesen (gegen den Dualismus).
(Ende meiner Bemerkungen gestützt auf die Buchbesprechung.)

Viele Autoren vergeuden ihre Zeit mit Diskussionen über die Schöpfung oder über die Unsterblichkeit der Seele. Ein Beispiel ist der wütende Leserbrief eines Physikers als Reaktion auf die Tatsache, dass das Buch von Barbour im American Journal of Physics überhaupt besprochen wurde (Jay Orear, Physics Department, Cornell University):
'Die Grundlage der meisten modernen Religionen ist unangezweifelte Annahme von Leben nach dem Tod als absolute Wahrheit. Das steht in direktem Konflikt mit der wissenschaftlichen Tatsache, dass es kein Leben nach dem Tod gibt. (Ein Beweis: Das Gedächtnis ist in den Hirnzellen gespeichert und diese zerfallen nach dem Tod vollständig.)'

Dies ist wohl eine Illustration der Position "Konflikt". Auf das Thema "Leben nach dem Tod" will ich jetzt nicht näher eingehen. Dass der Tod als Grenze des Lebens nicht explizit im Programm dieser Cortona-Woche über 'Grenzen' in Erscheinung tritt, ist bereits kritisiert worden. Ich will nur kurz erwähnen, dass ein grosser Reichtum an Erfahrungsmaterial über jenen Bewusstseinszustand existiert, in den wir einmal eintreten werden, und dass es schlicht unwissenschaftlich ist zu behaupten, ein Leben nach dem Tod gebe es nicht, bloss weil unsere Nervenzellen dann zerfallen.

Aber die zentrale Wahrheit der Religion bezieht sich weder auf die ferne Vergangenheit (nämlich in Form religiöser Theorien des Anfangs) noch auf die ferne Zukunft (in Form religiöser Theorien des Endes aller Zeiten), sondern auf die Gegenwart.

Den meisten Autoren, die akademisch über Wissenschaft und Religion schreiben, fehlt ferner die persönliche Erfahrung, welche Religion notwendig macht. Diese Erfahrung ist einmal von einem Therapiepatienten so formuliert worden: "Wenn die eigene Ebene zerbricht, gibt es einen Raster, durch den niemand durchfällt".

Bestenfalls bezeichnen akademisch fragende Autoren den Glauben als eine vernünftig begründbare Option, welche wenigstens der Wissenschaft nicht widerspricht.

Dazu aber der japanische Religionsphilosoph Keiji Nishitani ('Was ist Religion?' Frankfurt 1982):
"Der akademisch Fragende hat sich der Religion gar nicht genähert.
Er bedarf zutiefst der Religion. Für wen Religion nicht notwendig ist,
ist vom Ursprung des Lebens entfernt."

Ich habe zu Beginn behauptet, die Sprache, welche die Bereiche des Rationalen und des Irrationalen beziehungsweise der Wissenschaft und der Religion vereinige, sei leicht zu beschreiben. Das heisst aber keineswegs, dass es leicht sei, sie zu erlernen und zu praktizieren.

Ich spreche nun übrigens über meinen persönlichen Versuch, diese Sprache auszudrücken. Jedes von uns muss selbst die richtige Lösung suchen. An komplizierte und intellektuell anspruchsvolle Lösungsvorschläge glaube ich jedenfalls nicht. Die Wahrheit ist einfach. Aber wenn ich mich nicht mit einer billigen Lösung zufrieden gebe, darf ich mich nicht wundern, dass sie etwas kostet. Der Preis ist derselbe wie für die Ausübung irgend einer Kunst. Jede Kunst erfordert sehr viel Studium, Einübung, Geduld, und Disziplin.

Die Vorbedingungen für eine erfolgreiche Praxis der gemeinsamen Sprache von Wissenschaft und Religion sind die gleichen wie diejenigen für die Praxis der Kunst des Liebens. Vielleicht kennen einige von Euch das Buch 'Die Kunst des Liebens' von Erich Fromm. Zu den Vorbedingungen gehören, wie Fromm dies sehr ausführlich darlegt und begründet: Disziplin, Konzentration, Absolutes Interesse, Aufmerksamkeit, Geduld, Durchhaltevermögen, Vernunft, Objektivität, Glauben, Zuverlässigkeit, Überwindung der Egozentrik, Lernen von guten Vorbildern, Bescheidenheit, Mut, und Aktivität.

Fromm betont die grosse Bedeutung der Überwindung der Egozentrik. Den gleichen Gedanken hat uns Bruder David Steindl-Rast in seinem denkwürdigen Cortona-I-Vortrag nahegebracht. Gestützt auf ein Buch von James Fowler ('Stages of Faith') hat er die aufeinander folgenden Stadien beschrieben, die wir in unserer Entwicklung vom Säugling zum Erwachsenen und schliesslich zum Weisen durchlaufen, wobei sich unser Bewusstseinshorizont zunehmend erweitert. In der letzten Stufe, die menschlicher Vision zugänglich ist, umfasst unser Bewusstseinshorizont schliesslich den ganzen Himmel. Der Übergang, oder die Krise, durch welche diese allerletzte Stufe erreicht wird, ist mit unserer Selbstaufgabe, mit dem Opfer unseres eigenen Selbst verbunden. (Branco Weiss: "Wir haben alle den selben Himmel, aber nicht alle den selben Horizont".)

Eine weitere Vorbedingung für die Vereinigung von Wissenschaft und Religion ist von Hans Primas genannt worden, und zwar nicht in seinem Cortona-V-Vortrag über Wolfgang Pauli, sondern in seinem Essay in der ersten Nummer der Zeitschrift GAlA. In der gegenwärtigen Orientierungskrise dürfen sich Wissenschafter nicht mehr länger mit der Richtigkeit ihrer wissenschaftlichen Resultate begnügen, sondern die Wissenschaft muss wahr werden. Und Wahrheit ist nicht rein rational, objektiv und unpersönlich, sondern Wahrheit ist letztlich persönlich. Mit seinem Einstand für die Wahrheit gewinnt der Wissenschafter seine Würde als Mensch zurück.

Ich habe bis jetzt die folgenden Vorbedingungen für eine glaubwürdige Praxis der gemeinsamen Sprache von Wissenschaft und Religion genannt:

1. Unser Bewusstseinshorizont muss sich erweitern, bis er sowohl den wissenschaftlichen als auch den religiösen Himmel einschliesst;  Was zuerst als zwei verschiedene Himmel erschien, ist in Wahrheit ein Himmel.

2. Wenn unser Bewusstsein derart weit geworden ist, werden wir feststellen, dass wir unsere Ich-Verhaftetheit, unser Ego, haben sterben lassen, und wir werden dieses Opfer nicht als zerstörerisches Ende erfahren haben.

3. Nachdem unser Horizont genügend weit geworden und unser Ego verwandelt ist, übernehmen wir persönliche Verantwortung für unser Eintreten für die Wahrheit: 'Wahrheit ist persönlich' (Hans Primas in GAlA).

Als Akademiker sind wir uns gewohnt, in einem unpersönlichen Stil zu dozieren und zu schreiben. Wir behandeln wissenschaftliche Erkenntnisse, als ob es sich dabei um objektive, von unserem Weltbild unabhängige Fakten handelte. Wir verstehen uns selbst als Subjekte und unsere Fakten als von unserem Denken unabhängige Objekte. Die von uns in unserem Beruf praktizierte Sprache beruht auf einer scharfen Subjekt-Objekt-Trennung.

Im Gegensatz dazu muss ich, wenn ich über Wahrheit sprechen oder schreiben will, eine Sprache verwenden, welche persönlich und welche mit meiner ganzen Denk- und Lebensweise verflochten ist. Ja, letztlich gilt, dass ich selbst die gemeinsame Sprache von Wissenschaft und Religion bin: In dem Masse, in welchem ich wahrer "Wissenschafter und religiöser Mensch bin, manifestiere ich diese gemeinsame Sprache. Ich bringe sie mit meinem ganzen Denken, Fühlen und Handeln zum Ausdruck. Das ist die Bedeutung der Aussage, diese Sprache sei, wie die Wahrheit, persönlich. Keine Autorität ausserhalb von mir kann mir letztlich diese Verantwortung als Wissenschafter abnehmen.

Natürlich gründet die Sprache, welche Wissenschaft und Religion vereinigt, auf einem Wissenschaftsverständnis, welches frei von ideologischen Vorurteilen, und auf einem Glauben, welcher frei von konfessions-spezifischen Inhalten ist. Das lässt sich leicht sagen, ist aber nur über eine lange Serie von inneren Krisen erreichbar. In jeder Krise muss ich gewisse Vorurteile oder Glaubensinhalte loslassen. Aber aus diesem Prozess gehen mein Wissen und mein Glaube gestärkt hervor, denn sie gründen nun nicht mehr ausschliesslich auf dem Glauben an die Zuverlässigkeit wissenschaftlicher und religiöser Autoritäten, sondern auf meiner eigenen Erfahrung. Aber gleichzeitig erweist es sich, dass meine in diesem Prozess entwickelte Erkenntnis nicht subjektiv oder beliebig ist, sondern sie erweist sich als konsistent mit den Erfahrungen, Lehren und Zeugnissen aller derjenigen, die in irgend einer Kultur oder zu irgend einer Zeit diese Entwicklung selbst durchgemacht haben.

Mit der zunehmenden Erweiterung unseres Horizonts beginnen wir wahrzunehmen, dass die scharfe Grenze zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und religiöser Wahrheit nur in unserem eigenen Denken existiert hat. Unser religiöser Glaube beginnt, in gleichem Masse mit unserer Erfahrung überein zustimmen wie unsere wissenschaftliche Erkenntnis. Wir sind nicht mehr von etablierter wissenschaftlicher oder religiöser Autorität abhängig. Die Grundlage unseres Wissens und Glaubens ist jetzt die Wahrheit selbst, welche unserer Existenz und diesem ganzen wunderbaren Universum zugrunde liegt.

Ziel aller Religion ist letztlich, eins werden mit der Wahrheit: "Ich bin die Wahrheit'; Dieses Ziel ist nicht heute oder morgen erreichbar. Aber Ziele, die dem Leben Sinn geben, brauchen nicht unmittelbar erreichbar zu sein. Wahrheit ist nie vollständig rationalisierbar, begreifbar oder verfügbar. Sie widersteht allen Versuchen nach vollständigem Verstehen oder Beschreiben. Immer wieder scheint sie auf als ursprüngliche, dynamische und authentische Erfahrung.

Weshalb ist es so schwierig, religiöse Wahrheit zu verstehen und in der Lebenspraxis zu manifestieren? Einer der Gründe ist, dass wir alle ganz natürlich aufwachsen und lernen, das Leben zu meistern, indem wir auf unsere eigenen Füsse stehen und unsere eigenen Lebensentwürfe verwirklichen. Wir wollen unser Vertrauen nicht auf eine transzendente Macht setzen, die uns bestimmen würde. Zuerst versuchen wir, das Leben zu meistern, indem wir uns mutig auf unsere eigene Kraft, Vernunft, Menschlichkeit und ähnliche solche wertvolle Grundsätze verlassen.

Aber früher oder später wird sich das Leben als mächtiger erweisen als unsere eigenen Ressourcen. Wir machen die Erfahrung, dass wir, "solange wir auf uns selbst gestellt bleiben, zum Scheitern verurteilt sind" (Thorwald Detlefsen).

Nachdem wir unser Scheitern erkennen, kehren wir um, um uns wieder an unsere ursprünglichen Wurzeln anzuschliessen. Unser Ego hat einen 'Tod' erlitten. Es ist Raum entstanden für die Entfaltung unseres wahren Selbst, welches in einer Wahrheit wurzelt, die unsere eigenen Ressourcen übersteigt. Was ich zu sein scheine, muss abnehmen, damit das, was ich in Wahrheit bin, Raum bekommt, sich in mir zu entfalten. Das ist die sogenannte 'Tod-und-Auferstehungs-Erfahrung'.

Um diesen teuren Weg herum, der 'alles' kostet, gibt es keine billigere Abkürzung. Kein Erlöser, keine Erlöserin wird in dieser entscheidend wichtigen Krise stellvertretend meinen Platz für mich einnehmen. Um inneren Fortschritt zu machen, muss ich sie selbst durchschreiten. Der Erlöser mag ein Beispiel setzen, indem er den Weg vorangeht, damit ich nachzufolgen vermag. Ich mag dann die Bedeutung des Wortes entdecken: "Zuerst stirbt man, dann lebt man." Denn jene welche sagen: "Zuerst lebst du, dann stirbst du", irren, weil in Wirklichkeit gilt, dass du zuerst stirbst und auferstehst, erst dann lebst du. Viele, die zu leben  wähnen, sind in Wirklichkeit 'tot': Sie. sind noch nicht zu dem Leben erwacht, das diese Bezeichnung verdienen würde.

Hat das irgend einen Bezug zur gemeinsamen Sprache von Wissenschaft und Religion? Sicher: Sowohl Wissenschaft als Religion gründen auf der Suche nach einer, Wahrheit, die in Erfahrung bewährt ist. Die zentralen Lehren eines Moses, eines Jesus, und anderer, erweisen sich, wenn sie im Leben praktiziert und getestet werden, als tiefe Lebenswahrheiten. Niemand kann diese Lehren ignorieren und erfolgreich leben, sei er religiös oder nicht. (Wie die Naturgesetze: Sie gelten für diejenigen, die an sie glauben, so gut wie für jene, die sich ihrer unbewusst sind.)

Das wissenschaftliche und das religiöse Weltbild stellen nicht zwei verschiedene sondern ein einheitliches Weltbild dar. Dieses Bild entspricht der Anschauung, dass das Ganze des Universums - Raum, Zeit, Materie, Energie, Seele, Geist, mein individuelles Bewusstsein sowie das Ganze allen Bewusstseins - eine ungeteilte Ganzheit ist.

Meinen Sinnen zeigt sich das Ganze so, dass es aus individuellen Objekten zu bestehen scheint. Aber "vollständige Theorien über Objekte wären vorübergehende Produkte von philosophisch vollständig selbstzufriedenen Physikern" (A. Kyprionidis & J: Vigier; 1988).

Sie haben sich vielleicht gefragt, weshalb ich bisher vermieden habe, das Wort "Gott" zu gebrauchen. Der Grund ist, dass sich die Menschen sehr verschiedene Bilder von Gott machen. Jedes Bild begrenzt Gott auf weniger als das Ganze. Andererseits sollten wir das Wort nicht derart stur vermeiden, dass es schwierig wird, zu kommunizieren. Die praktische Notwendigkeit für den Gebrauch des Wortes Gott illustriere ich z.B. mit diesem hübschen Gedicht von Masha Kaléko:

Wie sag ich's meinem Kinde?

Jüngst sah mein kleiner Sohn
Den ersten Totenwagen.
Er gab nicht einen Ton
Und stellte keine Fragen.

Doch dann, nach ein paar Tagen,
Begann er zögernd-leis.
Was konnte ich schon sagen,
Wo man doch selbst nichts weiss.

Das Schulrezept: Botanik,
"Vom Werden und Verderben",
Erzielte nichts als Panik:
Mama, auch du kannst sterben?! "

Es war nicht pädagogisch,
Vom Fortbestand der Seelen,
Und viel zu theologisch
Vom Himmel zu erzählen.
Doch mangels akkuraten
Berichts aus jenen Sphären,
Erschien es mir geraten,
Zu trösten statt zu lehren.

Im Kreis der 'Aufgeklärten'
Bin ich darob verfehmt.
Verzeiht, ihr Herrn Gelehrten,
Wenn mich das nicht sehr grämt.

Die Bücherweisheit ist bankrott,
Der Blinde führt den Blinden.
Und wahrlich, gäb es keinen Gott,
Man müsste ihn erfinden.

Theoretisch ist es nicht nötig, an einen persönlichen Gott zu glauben. Aber in der Praxis ist es leichter, mit Gott zu kommunizieren als mit einer mehr abstrakten Idee einer spirituellen Quelle von Kraft, Liebe und Erkenntnis, die uns alle trägt. Wichtig ist ja vor allem, in ständiger bewusster Verbindung (oder Dialog, oder Gebet) zu stehen mit was immer es ist, was die Menschen Gott nennen. Auch unter uns Menschen ist die Kommunikation einfacher, wenn wir uns des Wortes Gott bedienen. Wir verstehen alle sofort, was mit der folgenden Gedichtstrophe gemeint ist:

Von guten Mächten wunderbar geborgen
Erwarten wir getrost was kommen mag.
Gott ist mit uns am Abend und am Morgen
Und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Das Gedicht "Von guten Mächten" ist 1944/45 von Dietrich Bonhoeffer im Gestapogefängnis, wenige Monate vor seiner Hinrichtung, geschrieben worden. Es drückt die Erkenntnis eines Menschen aus, für den die Worte "Gott liebt mich" eine tiefe Bedeutung hatten.

Es mag bedeutsam sein, dass religiöse Erfahrung angemessener in der Sprache der Dichtung und in einer das Herz ansprechenden Sprache ausgedrückt werden kann als in intellektuell anspruchsvoller Sprache. Dies mag ein weiterer Grund sein, weshalb Wissenschafter und Theologen auf ihrer komplizierten Suche nach einer gemeinsamen Sprache von Wissenschaft und Religion, welche ihren selbst auferlegten akademischen Ansprüchen genügen würde, bisher gescheitert sind.

"Und suchst du Gott, dann werde kein Grübler über Rätselfragen. Sondern schau dich um: Du wirst Ihn sehen, wie Er mit deinen Kindern spielt." (Kahlil Gibran: Der Prophet)

Auf deiner eigenen Suche nach der Sprache, die deine Tätigkeit, was immer sie sein mag, mit Religion vereinigt, wünsche ich dir viel Spass und Befriedigung. "Gott" segne dich.

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