MYSTICS
& SCIENTISTS 20
11th - 13th April 1997
The Scientific & Medical Network
Winchester, England
'The Spirit of Science and the Science of the Spirit'
Sonntagmorgen, 13th April, 9:15 - 10:15:
Die
Einheitserfahrung am Ursprung von Religion, Philosophie und
Psychologie, und am letztendlichen Horizont von Physik, Kosmologie und
Bewusstsein
Kurt Dressler
Guten Sonntagmorgen! Bevor ich über die Erfahrung
der Einheit sprechen kann, möchte ich mich, und zugleich auch
euch, auf ein solches Vorhaben einstimmen. Ich tue dies,
indem ich einen Abschnitt aus einem Buch vorlese, das für mich
den Rang einer zeitgenössischen 'Heiligen Schrift'
hat. Der spezielle Abschnitt, den ich vorlesen werde, heisst
'Der vergessene Gesang.' Es ist ein Text, welcher das Herz
sowie auch den Intellekt anspricht; Ich denke, er wird uns
als Mystiker sowie als Akademiker ansprechen. Beim ersten
Zuhören scheint es sich bloss um einen weiteren poetischen und
spirituellen Text zu handeln, aber die nähere
Prüfung wird uns zeigen, dass er gleichzeitig von
psychologischer, philosophischer und sogar physikalischer und
astronomischer Bedeutung ist. Ich habe diesen Text
wegen seinem Sinnzusammenhang mit dem Titel meines Referats zu lesen
gewählt.
So lade ich Euch nun ein, diesen Text
mit geschlossenen Augen zu hören, wenn Ihr wollt, oder sie
offen zu halten, falls Ihr den Text lieber mit mir lesen wollt.
Horch und versuche darüber
nachzudenken, ob du dich an das erinnerst: Vielleicht erhaschst du den
Hauch eines Urzustands, den du nicht ganz vergessen hast - undeutlich
vielleicht, und doch nicht gänzlich unbekannt, wie ein Lied,
dessen Name du längst vergessen hast und ebenso die
Umstände, unter denen du es vernahmst. Nicht das
vollständige Lied ist bei dir geblieben, nein, nur der
kleinste Fetzen einer Melodie, weder mit einem Menschen noch einem Ort
oder sonst etwas Bestimmtem verknüpft. Und dieser kleine
Fetzen nur erinnert dich daran, wie lieblich dieses Lied war,
wie herrlich die Umgebung, wo du es gehört hast, und
wie sehr du jene liebtest, die da waren und es mit dir hörten.
Die Noten sind nichts. Dennoch hast du sie in dir bewahrt, nicht um
ihrer selbst willen, sondern als sanfte Erinnerung an das, was dich zum
Weinen brächte, wenn du dich bloss erinnertest, wie teuer es
dir war. Du könntest dich erinnern, doch hast du Angst davor,
weil du glaubst, du würdest die Welt verlieren, die du seither
gelernt hast. Und dennoch weisst du, dass nichts in der Welt, die du
gelernt hast, dir auch nur halb so teuer ist wie dies. Horch und sieh,
ob du dich an ein altes Lied erinnerst, das du vor so langer Zeit
gekannt hast und das dir lieber war und teurer als irgendeine Melodie,
die du dich selbst seither lieb zuhaben lehrtest.
Jenseits des Körpers,
jenseits der Sonne und der Sterne, hinter allem, was du siehst,
und doch irgendwie
vertraut, wölbt sich ein Bogen goldenen Lichts,
der sich,
während du schaust, zu einem grossen, leuchtenden Kreis
ausdehnt.
Und der ganze Kreis
füllt sich mit Licht vor deinen Augen.
Der Rand des Kreises
löst sich auf, und was darin ist, wird nicht mehr
zurückgehalten.
Das Licht dehnt sich
unendlich aus und leuchtet immerdar,
ohne dass irgendwo eine
Grenze oder Unterbrechung wäre.
Darin ist alles in
vollkommener Kontinuität verbunden.
Und es ist unvorstellbar,
dass irgend etwas ausserhalb sein könnte,
denn es gibt keinen Ort,
wo dieses Licht nicht wäre.
Dies ist die Schau des SOHNES, der dir wohlbekannt ist. Hier ist der
Anblick dessen, der erkennt den VATER. Hier ist die Erinnerung an das,
was du in Wahrheit bist: ein Teil davon, mit allem so in dir mit allem
fest verbunden, wie alles auch in dir verbunden ist. Nimm an die Schau,
die dieses zeigt, und nicht den Körper. Du kennst das alte
Lied und kennst es gut. Nichts wird dir je so lieb sein wie dieser alte
Lobgesang der Liebe, den der SOHN noch immer für den
VATER singt. Was ist ein Wunder, wenn nicht diese Erinnerung? Und wen
gibt es, in dem diese Erinnerung nicht liegt? Das Licht in
einem erweckt das Licht in allen. Und wenn du es in deinem Bruder
siehst, erinnerst du dich in der Tat für alle.i
Ich werde im Verlauf meines Referats auf verschiedene Abschnitte dieses
sogenannten 'Vergessenen Gesangs' Bezug nehmen. Das Referat
ist
entsprechend den sieben in seinem Titel angesprochenen Aspekten in
sieben Abschnitte gegliedert:
Der
Titel
1 Die Einheitserfahrung
2 am Ursprung von Religion,
3 von Philosophie,
4 und von Psychologie,
5 und am letzten Horizont der Physik,
6 der Kosmologie,
7 und des Bewusstseins |
Das
Referat
1 Die Vision des Verbundenseins
und die mystische Einheitserfahrung
2 Die
Einung von Selbst und All, erfahren als
Einung mit Gott, am Ursprung der Religion
3 Die Unterscheidung von Maya und Wahrheit
am Ursprung der Philosophie
4 Die psychologische Entwicklung
von unbewusster zu bewusster Einheit
5 Die Idee der Einheit in der Physik:
5.1 Wirklichkeit als ungebrochene Ganzheit
5.2 Einung von Raum, Zeit, Energie und Kraft
6 Die Idee der Einheit am letztendlichen
kosmologischen Horizont
7 Die Einung von physikalischer Wirklichkeit
und Bewusstsein |
1 Die Vision des
Verbundenseins und die mystische Einheitserfahrung
Der "Vergessene Gesang" verfehlt nie, mich sowohl emotional als auch
intellektuell zu berühren, sowohl intuitiv als auch
rational. Er erinnert mir immer, dass es keine Trennung gibt
zwischen selbst und anders, zwischen mir und dem, was ich als
die Welt bezeichne. 'Alles ist in vollkommener
Kontinuität verbunden;' mein
Körper, mein Bewusstsein, die
Welt: 'alles ist in dir mit allem fest verbunden.'
Die allumfassende Verbundenheit, die hier zum Ausdruck gebracht wird,
ist ein bekanntes Merkmal der mystischen Einheitserfahrung.
In der mystischen Einung 'verbindet sich alle Multiplizität
mit ihrem Ursprung, welcher Eins ist ohne jede Dualität, und
welcher die Multiplizität enthält.' Das
Eingehen in die mystische Einheit ist eine 'Heimkehr aus der
Multiplizität und Trennung ins ursprüngliche
Einssein.'ii Die Erfahrung
ist ihrem Wesen nach
unaussprechlich weil, wer sie erlebt, in die Einheit hineingenommen
worden ist. 'Das Einheitsbewusstsein kommt nicht als
mitteilbares Wissen sondern durch eine unmittelbare Gegenwart, welche
alles Wissen überragt.' iii
2 Die Einung von Selbst
und All, erfahren als Einung mit Gott, am Ursprung der Religion
Die mystische Einheitserfahrung steht am Anfang aller echten Religion,
weil die Schau des Verbundenseins und die Einung von selbst und All
fast immer als Einung mit Gott erkannt wird. Martin Buber hat
geschrieben: 'Es gibt fast keinen Mystiker, der sein Erleben seines
wahren Selbst nicht als Gotterleben gedeutet hätte. In
mystischer Einheit empfängt der Mensch eine Offenbarung seiner
Freiheit und undifferenzierter Gegenwart: das Erleben des
Ich. Aber er wagt nicht, es auf sein armes Ich zu legen, von
dem er nicht ahnt, dass es das Welt-ich trägt; so
hängt er es an Gott. Die Seele, die die Gnade der
Einheit empfängt, ist nicht mehr in die Vielfalt
zerstreuender Sinneseindrücke von Ich und Welt verstrickt,
sondern sie erlebt die Einheit von Ich und Welt.
Zunächst scheint der Mensch mit dem Namen Gottes vornehmlich
das erklärt zu haben, was er an der Welt nicht verstand, aber
nach dem Erlebnis mystischer Einheit immer öfter das, was der
Mensch an sich nicht verstand: das Erleben der Einheit. So
wurde dieses zu Gottes höchster Gabe.'iv
Mein Freund sagt, 'die tiefliegendste Wirklichkeit des
Menschseins wird in mystischer Einheit erfahren. Sie
offenbart, dass wir zutiefst alle von Gott ungetrennt, dass wir alle
Brüder und Schwestern sind.' v
'Die Erfahrung mystischer Einheit ist ein seltenes Phänomen,
aber sie konstituiert den Kern religiösen Lebens.
Sie ist die einzige direkte und absolut unzweifelhafte Erfahrung des
Ewigen und Unendlichen als solches. Sie ist an der Quelle der
grossen Religionen und ist entscheidend dafür, dass das
religiöse Erbe der Menschheit lebendig erhalten
wird.' vi 'Das
Wesentliche
religiösen Denkens beruht nicht darauf, Gotteskonzepte zu
erwägen, sondern auf der Fähigkeit, die Erinnerung an
Momente der Erleuchtung durch Seine Gegenwart zu
artikulieren.'vii
Nun wende ich mich der Feststellung zu, dass die Erfahrung der Einheit
nicht nur am 'Ursprung der Religion,' sondern auch am 'Ursprung der
Philosophie' steht:
3 Die Unterscheidung von
Maya und Wahrheit am Ursprung der Philosophie
Ich mache geltend, die Idee der Einheit sei die Antwort auf die
philosophische Grundfrage nach dem Ursprung, eigentlichen Wesen und
Ziel unserer rätselhaften Existenz in einer vieldeutigen
Erscheinungswelt.
Vor 2½ Jahrtausenden hat der Vorsokratiker Parmenides
radikale philosophische Konsequenzen aus seiner eigenen mystischen
Erfahrung gezogen:
Dem gängigen Weltbild, welches darauf beruht, wie der Mensch
alltäglich die Wirklichkeit sieht, ist
philosophische Wahrheit entgegengesetzt: Da meint der Mensch
erstens, das einzelne Ding in seiner Besonderheit sei das
wahrhaft Wirkliche, und er achtet nicht auf das
Ganze, in dem gehalten das Einzelne doch allein existieren
kann. Da meint er zweitens, die Welt sei ein Streit
von Gegensätzen, und er vergisst, dass es
in allem Streit eine Einheit gibt, auf deren Grunde allererst
die Gegensätze sich erheben können. Das
wahre Sein ist nicht, wie das endliche Seiende,
zerspalten in lauter Einzelnes, sondern es ist Eines, dass in
ihm alles mit allem zusammenhängt. Es kennt nicht
Gegensätzlichkeit und Streit, sondern ihm kommen
Ganzheit, Unteilbarkeit, Gleich-artigkeit mit sich
selbst zu. Es ist nicht durch Vergänglichkeit und
ständige Bewegtheit gekenn-zeichnet, sondern ihm
eignen Unbewegtheit und Ewigkeit. Wer danach fragt,
was das wahrhaft Seiende ist, darf sich nicht an die uns
umgebende Wirklichkeit halten und auf diese starren; er darf
sich nicht an die vergänglichen Dinge halten. Er
muss vielmehr auf das Ewige und Immerseiende blicken, das
über aller Wirklichkeit steht, ja, das in
all unserer Wirklichkeit das einzige wahrhaft Wirkliche ist.viii
Heraklit, ein Zeitgenosse von Parmenides, ist für seine
dunklen, verborgenen Worte bekannt, die nur in Kenntnis der
Einheitserfahrung sinnvoll gedeutet werden können:
Das wahre Wesen dessen, was ist, liebt
es, sich zu verbergen. Die Welt ist eine zerrissene
Welt. Aber die Gegen-sätzlichkeit ist nicht das
letzte: vielmehr sind die Glieder der Gegensätze je
aufeinander bezogen. Die Dinge sind durch ihr
gegensätzliches Verhalten miteinander
zusammengefügt. Im Bezogensein der
Gegensätze aufeinander wird eine tiefere, diese
haltende Einheit sichtbar. Im Blick auf die Zerissenheit der
Wirklichkeit gilt, dass unsichtbare Harmonie stärker
ist als sichtbare. Das Auseinanderstrebende vereinigt
sich, und aus dem Verschiedenen entsteht die
schönste Harmonie. Alles ist eins. Aus
allem wird eins und aus einem alles. In allen Verwandlungen
wird das Eine sichtbar; sich wandelnd ruht es. Es
ist lebendig sich entfaltende und sich wieder in sich selber
zurücknehmende Einheit. Als solche ist sie die
tiefere Wirklichkeit in der zerklüfteten Welt.' 8
Aufgrund dieser Worte von Parmenides and Heraklit sage ich, die
Philosophie gründe ursprünglich auf der bewussten
Anerkennung der Unterscheidung zwischen Alltagswirklichkeit und wahrem
Sein. 'Ein altes Lied; wir kannten es vor langer
Zeit und liebten es viel mehr als irgendeine Melodie, die wir uns
selbst seither zu schätzen lehrten.' Das ist wahres Sein, wie
wir es gehört haben im 'Vergessenen Gesang,'
während die Welt, die wir seither gelernt und uns selbst
gelehrt haben, die Art ist, wie wir normalerweise die Welt
wahrnehmen und deuten.
4 Die psychologische
Entwicklung von unbewusster zu bewusster Einheit
Meine Aussage, die Erfahrung der Einheit stehe auch am Ursprung der
Psychologie, beruht auf der Feststellung, dass sich unser eigenes
Bewusstsein aus unbewusster Einheit bei der Geburt zu bewusster Einheit
im Stadium später Reife und Weisheit entwickelt.
Bei unserer Geburt und in den ersten Lebensmonaten ruht unser
Bewusstsein noch immer in allumfassender, undifferenzierter
Einheit. Aber das Leben könnte sich in diesem
All-Einssein nicht weiter entfalten. Das Bewusstsein beginnt, zwischen
Ich und Nicht-Ich zu unterscheiden. In dieser
Übergangsphase führt die Entwicklung aus dem
All-Einssein ins Allein-Sein. Unser Ausgang aus unbewusster,
undifferenzierter Einheit als Säugling in die differenzierende
Wahrnehmung einer Welt voller Polaritäten und Konflikte
entspricht unserer Vertreibung aus Eden, aus dem Paradies,
als Konsequenz unseres Schmeckens der Frucht vom Baum der Erkenntnis,
d.h. als Konsequenz unseres differenzierenden Intellekts. Das
'Paradies' ist als die symbolische Darstellung des undifferenzierten
Einheitsbewusstseins des Säuglings zu verstehen.
Unser Bewusstsein entwickelt sich anschliessend entlang einer Reihe von
Stufen, die durch sukzessive sich erweiternde Bewusstseinshorizonte und
zunehmend verfeinerte Differenzierungs-fähigkeit
charakterisiert sind, bis wir in spätem Reifestadium bewusst
eine allumfassende Integration und Einheit anstreben. Dies ist von den
grossen philosophischen und spirituellen Wahrheitslehrern aller Zeiten
und Kulturen praktiziert und bezeugt worden. Oft wird diese
bewusste Suche nach Einheit durch eine existentielle Lebenskrise
ausgelöst, verursacht letztlich durch die Konfrontation
unseres Lebensentwurfs mit der Zerrissenheit der Welt. Das Opfer,
welches aus dieser Krise zu weiterführender Entwicklung
hinausführen könnte, wäre unser eigener
Anteil an dieser Gebrochenheit, d.h., wir selbst. Wenn wir bereit sind,
uns zu verlieren, finden wir uns - in der
All-Einheit. Der Bewusstseinshorizont ist dann radikal
unbegrenzt: Er weitet sich aus auf den ganzen Himmel und Erde. Die
Entwicklung, die diesem Ziel entgegenführt, entspricht einem
fortgesetzten Vorwärtsschreiten von Fragmentierung zu Ganzheit
und Einheit. Dieses Ziel mag menschlich unerreichbar
scheinen, aber es gibt uns selbst sowie der ganzen Menschheit Sinn und
Orientierung, und es ist Bedingung für jedwede nicht-triviale,
echte Integration von Philosophie, Psychologie und Religion. ix
Wir verstehen jetzt, dass uns der 'Vergessene Gesang' uns an unsere
fast vergessene Einheit bei unserer Geburt erinnert:
Horch, - vielleicht erhaschst du den Hauch eines
nicht ganz vergessenen Urzustands; undeutlich vielleicht, und
doch nicht gänzlich unbekannt, wie ein Lied, dessen Name du
längst ver-gessen hast und ebenso die Umstände, unter
denen du es vernahmst. Nicht das vollständige Lied ist bei dir
geblieben, nein, nur der kleinste Fetzen einer Melodie, weder mit einem
Menschen noch einem Ort oder sonst etwas Bestimmtem
verknüpft. Aber du erinnerst dich,
aufgrund dieses kleinen Fetzens, wie lieblich dieses Lied
war, wie herrlich die Umgebung, wo du es gehört hast, und wie
sehr du jene liebtest, die da waren und es mit dir hörten.
Ich verstehe diesen Text als Darstellung der Erfahrung der Einheit im
Ursprung unseres Bewusstseins, einer Erfahrung, die uns allen gemeinsam
ist, die wir aber vergessen haben. Und was ist denn die
Erfahrung mystischer Einheit anderes als ein gesegneter Moment der
Heimkehr in diesen zeitlosen Zustand ungebrochener Ganzheit, von
Verbundensein und Einheit?
5 Die Idee der Einheit in
der Physik
Wir stellen nun mit einiger Verwunderung fest, dass sich nicht nur
unser Bewusstseinshorizont sondern auch der Horizont der Physik und der
Kosmologie auf einen Einheitszustand hin auszuweiten sucht.
Was verstehen Physiker unter einer solchen Aussage? Weisen
solche parallele Entwicklungen in Physik und Psychologie auf tiefer
liegende, verborgene, sinnvolle Verbindungen zwischen physikalischer
und psychischer Wirklichkeit? Diese Fragen wollen wir im Moment
zurückstellen, bis wir gesehen haben, was mit der Idee der
Einheit in der Physik und Kosmologie eigentlich gemeint ist.
Zuerst ein paar Worte über den Ganzheitscharakter der
physikalischen Wirklichkeit:
5.1 Wirklichkeit als
ungebrochene Ganzheit
Was wissen wir eigentlich über das wahre Wesen der
Wirklichkeit? Unserem Alltags-bewusstsein zeigt sich die
Wirklichkeit
- erstens als ein sich ständig
wandelndes dynamisches "Jetzt", dargestellt durch das reiche
Nebeneinander einer Vielfalt von scheinbar isolierten Objekten,
- und zweitens - indirekt, über
unser Gedächtnis - als ein Jetzt, welchem eine "Vergangenheit"
vorangegangen zu sein scheint.
Auch die Anzeigen unserer physikalischen Messinstrumente interpretieren
wir in diesem selben Bewusstseinszustand. So beschreibt die
Physik das Jetzt und die Kosmologie die Vergangenheit
- möglichst bis zurück zu einem
Urzustand, in welchem alle Beschreibung an ein Ende kommt.
Nun ist aber das Alltagsbewusstsein nur ein Ausschnitt aus viel
umfassenderen menschlichen
Bewusstseinsmöglichkeiten. Und die physikalische
Realität ist nur ein Ausschnitt aus viel umfassenderen
Wirklichkeitsaspekten. Die Ganzheit der Wirklichkeit besitzt
eine zeitlose und raumlose Qualität, welche sich wohl in
mystischer Einheit offenbart, nicht aber in unserem normalen
Bewusstseinszustand. Die Quantenphysik beschreibt die Welt
als ungebrochene Ganzheit, welche nicht aus Teilen
besteht. Unser Bewusstsein kann die Welt zerlegen,
und zwar auf viele verschiedene Arten. Die "Jetzt-Welt"
können wir in Objekte spalten, z.B. Ich und
Nicht-Ich, in Geist und Materie, in Kraft und
Stoff, in Raum und Zeit. Und das kosmische Ereignis
der quasi gleichzeitigen Entstehung, Evolution und Existenz des
Universums wird von unserem Bewusstsein aufgespalten in eine unendliche
Folge von scheinbar voneinander getrennten Moment-Aufnahmen,
ausgebreitet entlang einer Zeit-Koordinate: Eine Ent-Faltung
der in ihrem wahren Wesen letztlich ungebrochenen EIN-Falt,
oder Ganzheit. Für unsere normale Wahrnehmung
scheint die Wirklichkeit aus einzelnen Objekten zu bestehen.
Aber eine 'wissenschaftlich vollständige physikalische Theorie
[über einzelne Objekte] ist das vorübergehende
Produkt philosophisch vollständig selbstzufriedener
Physiker.' x
5.2 Vereinheitlichung von
Raum, Zeit, Energie und Kraft
Die der physikalischen Wirklichkeit zugrunde liegende Einheit zeigt
sich nicht nur in diesem Ganzheitsaspekt der Quantenphysik, sondern
auch in der sogenannten Vereinheitlichung von Kräften,
Materie, Energie, Raum und Zeit. Vereinheitlichung reduziert
Komplexität. Jede fundamentale physikalische Theorie
beschreibt eine reiche Vielfalt von Erscheinungen aufgrund eines
vereinheitlichenden allgemeinen Prinzips, z.B. eines
Kraftgesetzes, oder eines Symmetrieprinzips. Denken Sie z.B.
an Newtons Idee der Gravitation oder Schwerkraft, dank
welcher die Himmelsmechanik der Planetenbewegungen, also die
Keplerschen Gesetze, und die irdische Mechanik,
also Galileis Fallgesetz, in eins zusammengefasst
wurde. Oder denken Sie an Maxwells Theorie des
Elektromagnetismus, dank welcher die Gesamtheit aller
elektrischen und magnetischen Erscheinungen in eins zusammengefasst
werden konnten. Oder denken Sie an Einsteins
Relativitätstheorie, welche Masse und Energie, und
Raum und Zeit vereinheitlicht, und seine Gravitationstheorie, welche
die Struktur der vereinheitlichten Raum-Zeit mit der verallgemeinerten
Energiedichte verknüpft. Immer wieder werden
schrittweise die zwei zu einem gemacht. Zwei
Phänomene erscheinen zunächst als grundverschieden.
Dann, wenn sie aus der Sicht einer ihnen zugrunde liegenden,
vorher verborgenen Einheit betrachtet werden, offenbart sich die
Einheit, sobald die geeigneten mathematischen, symbolischen
Betrachtungsweisen entdeckt sind.
In dieser Weise ist die ganze reiche Vielfalt der uns umgebenden
materiellen Welt zurückgeführt worden auf vier
Prinzipien: 1. Die Schwerkraft, 2. Die
elektromagnetischen Kräfte, 3. & 4. die
sogenannten starken und schwachen Kräfte, welche die
Struktur und die Reaktionen der Atomkerne bestimmen. Aber
weshalb soll es vier grundverschiedene Typen von Kräften
geben? Weshalb nicht nur eine Urkraft, welche diese
Kräftevielfalt zusammenfasst? Diese Frage steht im
Brennpunkt der aufwendigsten experimentellen und theoretischen
Bemühungen der heutigen Physik.
Man hat nämlich gefunden, dass vereinheitlichende
Betrachtungsweisen gefunden werden können, wenn
Stoffe und Kräfte bei zunehmend höheren Dichten und
Temperaturen untersucht werden. Stoffe und
Kräfte, welche unter normalen Bedingungen ganz
unterschiedliche Eigenschaften besitzen, nähern sich
einander bei zunehmender Dichte und Temperatur. Die
höchsten heute technisch möglichen Dichten und
Temperaturen erzeugt man in Kollisionen zwischen
Elementarteilchen, z.B. in den Teilchenbeschleunigern am CERN
bei Genf und am Fermilab bei Chicago. In diesen Experimenten
findet man, dass Eigenschaften und Stärken der
Kräfte des Elektromagnetismus und der Kernkräfte mit
zunehmender Temperatur und Dichte deutlich einer Vereinheitlichung
zustreben.
Die bis heute beobachteten Annäherungen lassen
erwarten, dass unter extremsten Bedingungen, wie
sie in irdischen Laboratorien nicht realisierbar sind, eine
allumfassende Einheit denkbar ist, d.h. eine derart absolute
Einheit, dass nicht nur alle Unterschiede zwischen Energie-
und Kraftfeldern und Materieteilchen verschwinden, sondern
auch alle Unterscheidungen zwischen dieser vereinheitlichten
Manifestation von Kraft und Stoff einerseits und der vereinheitlichten
Raum-Zeit selbst.
Bildlich gesprochen befinden wir uns wie in einer Baumkrone,
inmitten von Blättern, Blüten,
Singvögeln und summenden Insekten. Deutlich sehen
wir beim Blick aus der Krone ins Innere des Baums, dass alle
Blütenzweige, dünneren und dickeren Äste von
vier dicken Hauptästen getragen sind. Je weiter in
den Baum hinein wir zu blicken versuchen, desto
bruchstückhafter wird unsere Sicht. Undeutlich
gewahren wir bei genauerem Hinsehen, wie zwei der Hauptäste
sich vereinigen und sich einem dritten annähern. Die
Kühnsten unter uns glauben fest, dass letztlich alle
Äste aus einem einzigen Stamm hervorgehen. Das
wäre das befriedigendste Gesamtbild. Den Stamm sehen
können wir nicht. Aber Sinn würde doch die
Baumkrone nur machen, wenn es einen tragenden Stamm
gäbe.
Die vier Hauptäste sind die vier Kraftfelder des
Elektromagnetismus, der schwachen und starken Kernkräfte, und
der Schwerkraft. Die Vereinigung des Elektromagnetismus mit
der schwachen Kernkraft zur sogenannten elektro-schwachen
Wechselwirkung ist bei hohen Energien bereits beobachtet. Bei
noch höheren Energien scheint diese mit der starken Kernkraft
zur sogenannten Wechselwirkung der grossen Vereinheitlichung in eins
zusammenzulaufen. Bemühungen, diese letztere auch
noch mit der Gravitation zu vereinen werden spasshaft die 'Theorie von
Allem' genannt. Die Idee der Einheit aller physikalischen
Wirklichkeit motiviert die Suche nach Vereinheitlichung der sogenannten
Fermion-, Boson- und Higgsfelder miteinander sowie mit Raum und Zeit in
der Hochenergiephysik und am letztendlichen sogenannten Planck-Horizont
der Kosmologie. Dieses Konzept der allumfassenden Einheit
aller physikalischen Wirklichkeit kann in irdischen Laboratorien nicht
realisiert werden, aber es spielt die Rolle eines absoluten Horizontes
in der Anwendung dieser Physik auf die Kosmologie.
6 Die Idee der Einheit am
letztendlichen kosmologischen Horizont
In der Kosmologie entspricht die Idee der Einheit einem Weltbild in
welchem die ganze reiche Vielfalt des heutigen Zustands von Himmel und
Erde als Resultat einer zeitlichen Evolution aus einem
ursprünglichen Zustand undifferenzierter Einheit gedeutet
werden kann. Diese mächtige und attraktive
Vorstellung entspricht einer Entfaltung der Vielfalt aus einem Anfang
unter Bedingungen extremst hoher Energiedichte und
Temperatur. Viele astronomische Beobachtungen,
gedeutet unter Anwendung bekannter irdischer Physik und
Astrophysik, legen dieses Bild einer Entwicklung des heutigen
Universums aus einem dichten, heissen Urzustand vor etwa 15 Milliarden
Jahren nahe.
In diesem Szenario erscheint uns das Universum heute als eine immense
durchsichtige Kugel mit einem Radius von 15 Milliarden Lichtjahren,
welche Milliarden von Sternen in jeder von Milliarden von Galaxien
enthält. Im Abstand von 15 Milliarden Lichtjahren
scheinen wir in allen Richtungen vollständig und
gleichförmig umschlossen zu sein von einer Kugelschale heissen
jonisierten Gases, nämlich eines brillant leuchtenden,
undurchsichtigen Nebels, der den durchsichtigen Teil des Universums
begrenzt und so unseren Sichthorizont darstellt. Weiter sehen
können wir nicht, weil wir nicht in diesen Nebel hineinsehen
können. Er stellt den Rand des durchsichtigen Teils
des Universums dar und umgibt uns vollständig und
gleichförmig in allen Richtungen. Es ist unser
Horizont des sichtbaren Universums, und als ein archaischer Nebel zeigt
er uns ein junges Entwicklungsstadium des Kosmos, als dieser nur einige
hunderttausend Jahre alt war.
Die wissenschaftliche Begründung dieses Weltbilds sieht
folgendermassen aus: Wenn wir kosmische Objekte in grossen
Distanzen betrachten, sagen wir Milliarden von Lichtjahren, dann ist
ihr Licht Milliarden von Jahre zu uns unterwegs gewesen. Je
weiter wir blicken, desto weiter zurück in die Vergangenheit
blicken wir. So kommt es, dass wir im Abstand von etwa 15
Milliarden Lichtjahren in eine Zeit zurückblicken, in welcher
sich weder Sterne noch Galaxien gebildet hatten. Hinter den
entferntesten und jüngsten Sternen und Galaxien und Quasaren
sehen wir das Universum in einem ganz jungen Zustand, in welchem sich
weder Sterne noch Galaxien noch dichte Körper irgend welcher
Art kondensiert hatten. Nein, in jenem jungen Zustand, als
das Universum lediglich ein paar hunderttausend Jahre alt war und sich
aus seinem Urzustand beinahe unendlich hoher Temperatur bis auf einige
tausend Grad herunter abgekühlt hatte, damals leuchtete der
ganze Himmel in nahezu perfekt gleichförmigem reinem goldenen
Licht, durchdrungen von einem Gas ionisierten Wasserstoffs, das einen
heissen, brillanten und undurchsichtigen Nebel bildete.
Wenn wir damals hätten dabei sein können: was
für ein Schauspiel hätte sich uns
dargeboten? Wir wären von diesem brillant
leuchtenden aber völlig undurchsichtigen Nebel umschlossen
gewesen. Dann hätte sich uns eine dramatische Schau
präsentiert. Als die Temperatur infolge der
allgemeinen Expansion des Universums abnahm, wandelte sich das
ionisierte, undurchsichtige Gas, bestehend aus Protonen und Elektronen,
in ein durchsichtiges Gas aus neutralen Wasserstoffatomen.
Der Nebel wurde im ganzen Universum durchsichtig. Nach einer
Sekunde hätten wir uns im Zentrum einer durchsichtig
gewordenen Hohlkugel mit einem Radius von 300'000 km gesehen,
nach einem Jahr im Zentrum einer Kugel mit Radius eines
Lichtjahrs. Denn, wenn sich der Nebel überall
gleichzeitig lichtet, muss ja das Licht zuerst zu uns gelangen, um uns
zu zeigen, dass auch entfernte Regionen durchsichtig geworden
sind. Deshalb besteht die sich uns bietende Schau darin, dass
dieser brillant leuchtende Nebel scheinbar mit Lichtgeschwindigkeit
rund herum von uns wegrast und uns in einem sich entsprechend rasch
ausdehnenden durchsichtigen Kugelraum lässt, der umrandet ist
durch die scheinbar immer noch undurchsichtige und mit
Lichtgeschwindigkeit wegrasende Kugelschale des leuchtenden
Nebels. Nach einer Million Jahren wäre dieser
leuchtende undurchsichtige Horizont eine Million Lichtjahre entfernt
gewesen. Heute, das ist ungefähr 15 Milliarden Jahre
später, umgibt er uns im Abstand von vielen Milliarden
Lichtjahren.
Ich bin nun an dem Punkt, an dem ich noch einmal die zentrale Passage
aus dem 'Vergessenen Gesang' lesen möchte:
Jenseits des Körpers,
jenseits der Sonne und der Sterne, hinter allem, was du siehst,
und doch irgendwie
vertraut, wölbt sich ein Bogen goldenen Lichts,
der sich,
während du schaust, zu einem grossen, leuchtenden Kreis
ausdehnt.
Und der ganze Kreis
füllt sich mit Licht vor deinen Augen.
Der Rand des Kreises
löst sich auf und was darin ist wird nicht mehr
zurückgehalten.
Das Licht dehnt sich
unendlich aus und leuchtet immerdar,
ohne dass irgendwo eine
Grenze oder Unterbrechung wäre.
Darin ist alles in
vollkommener Kontinuität verbunden.
Und es ist unvorstellbar,
dass irgend etwas ausserhalb sein könnte,
denn es gibt keinen Ort,
wo dieses Licht nicht wäre.
Als ich neulich diesen Text einem jungen Astrophysiker aus Kalifornien
zeigte, war er so bewegt und beeindruckt, dass er gleich in die
nächste Buchhandlung ging um sich den 'Kurs in Wundern' zu
holen,1 das Buch welches den
'Vergessenen Gesang'
enthält. Und das war auch meine eigene Reaktion
gewesen, als ich vor drei Jahren diesen Text zum ersten mal zu
hören bekam: Ich wusste sofort, dass ich dieses Buch
beschaffen musste. Und dies ist der Grund, weshalb ich Euch
einfach diesen Text heute vorlesen musste.
Aber denjenigen unter Euch, die nicht Astrophysiker sind, schulde ich
noch eine weitere Erklärung. Weshalb nämlich
können wir dieses alles umstrahlende und erfüllende
Licht nicht sehen? Der Grund dafür ist der, dass wir
in einem immens grossen und sich rasend rasch ausdehnenden Universum
leben. Wegen der kontinuierlichen allgemeinen Expansion des
Universums ist das Licht aus jenen extremen Distanzen aus dem
sichtbaren Bereich hinaus verschoben. Wenn das nicht so
wäre, wenn das Universum sich nicht ausdehnte, wenn dieses
archaische Licht nicht aus dem Bereich des Lichts und der
Wärmestrahlung frequenzverschoben wäre,
wären wir vollkommen von einem Himmel umgeben, der in jeder
Richtung beinahe so hell und heiss wäre wie die
Sonne. Dadurch würde alles auf einer Temperatur von
etwa dreitausend Grad gehalten, nichts könnte sich tiefer
abkühlen, kein Wasser könnte kondensieren, kein Leben
sich entwickeln. Solcherart waren die Bedingungen
während der ersten mehreren hundert Millionen Jahre im
Lebenslauf des Universums.
Dann, als sich der durchsichtige Kugelraum weiter und weiter mit
Lichtgeschwindigkeit ausdehnte, wich endlich die den Horizont bildende
Nebelwand in Distanzen, in welchen die Expansionsgeschwindigkeit des
leuchtenden Gasnebels selbst in die Nähe der
Lichtgeschwindigkeit rückte. Deshalb, wegen der
immens zunehmenden Grösse, des immens zunehmenden Alters, und
der allgemeinen Expansion des Universums, wurde das brillant und golden
leuchtende Licht allmählich aus dem sichtbaren Bereich ins
Infrarot und darüber hinaus frequenzverschoben.
Heute, bei einem Alter des Universums von etwa 15 Milliarden
Jahren, ist der Horizont in eine Distanz gerast, in welcher
die Expansionsgeschwindigkeit des heissen Nebels am Horizont nur um
etwa ein Millionstel geringer ist als die Lichtgeschwindigkeit
selbst. Einsteins Relativitätseffekte werden in
einer solchen Situation absolut dominant. Eine relativistische Dehnung
der Licht-Wellenlängen und Schwingungsperioden um das
tausendfache lässt uns das goldene Leuchten, das eigentlich
durch eine Temperatur von dreitausend Grad Kelvin charakterisiert ist,
als Drei-Grad-Kelvin kosmische Hintergrundstrahlung
erscheinen. Das Licht und die Wärmestrahlung
verbleichen in den Frequenzbereich der Mikrowellen. Aus
diesem Grund ist der Nachthimmel schwarz, und aus diesem
Grund ist die Strahlungstemperatur des interstellaren Raumes
genügend tief, um die Bildung von vielerlei Molekülen
zu ermöglichen.
Hinter dem beschriebenen heissen Vorhang dürfen wir uns einen
absoluten Horizont vorstellen, wo die sogenannte Krümmung von
Raum und Zeit derart extrem wird, dass sich alles in eine
ursprüngliche, anfängliche, primitive Einheit oder
Ur-Sache vereint.
Der ursprüngliche Zustand ungebrochener Einheit, unserem
direkten Blick verborgen, muss gedacht werden als ein absoluter
Horizont, der uns im entferntesten Rand des Kosmos und im Anfang der
Zeit in allen Richtungen umgibt. In diesem unsichtbaren
Einheitshorizont kommen alle Unterscheidungen zwischen Raum und Zeit
und Kraft und Stoff zu einem absoluten Ende. Es gibt
keinerlei Möglichkeit, diesen Horizont zu durchdringen, weder
räumlich noch zeitlich: Unser Universum hat weder ein
räumliches noch ein zeitliches 'Jenseits.' Wer immer
insistiert, in Gedanken den Einheitshorizont durchdringen und jenseits
blicken zu wollen, bleibt doch immer innerhalb dieses unseres
Universums. Der Einheitshorizont, an welchem alle Beschreibung an ein
Ende kommt, kann nicht durchdrungen werden. Es macht keinen
physikalischen Sinn, ein raum-zeitliches Jenseits denken zu wollen.
Wenn wir trotzdem insistieren, uns an zeitgebundenes Denken
festzuklammern, können wir bloss sagen: Im
Anfang war die Einheit, und jenseits davon gibt es keine Zeit.
Aber die Konzepte 'Zeit' und 'Anfang' beschreiben den Rahmen unserer
Wahrnehmung, der durch die begrenzten Fähigkeiten unseres
normalen Bewusstseinszustands bedingt ist. Dieser Zustand
ist, wie wir wissen, nur ein kleiner Schnitt aus weit umfassenderen
Bewusstseinsmöglichkeiten. Physikalische Forschung,
die sich dem Zustand vollständiger Vereinheitlichung
annähert, berührt auch die Bewusstseinsforschung,
denn Bewusstsein ist Teil des Ganzen der Wirklichkeit, welche eine
Theorie von Allem abzudecken hätte.
7 Die Einung von
physikalischer Wirklichkeit und Bewusstsein
Die Erfahrung der Einheit steht am Ursprung der Bewusstseinsforschung,
der Religion, der Philosophie, der Psychologie: Heute stellen
wir verdutzt fest, dass auch der Horizont der Physik und der Kosmologie
auf die Einheit hin konvergieren will. Stellen diese
parallelen Entwicklungen Hinweise auf tiefer liegende, verborgene,
sinnvolle Verbindungen dar? Berührt all dies das
Problem der Vereinigung der Domäne des Rationalen und
Bewussten mit der Domäne des Spirituellen und Verborgenen?
Gemäss meiner eigenen Erfahrung zeigt sich die Einheit von
physikalischer Wirklichkeit und Bewusstsein weder in wissenschaftlichen
Gleichungen noch in einer Theorie, sondern in einer Denk- und
Lebensweise. Es ist gar nicht notwendig, Geist und Materie zu
vereinigen. Denn sie sind schon eine Einheit. Je
früher ich dies realisiere und je früher ich meine
Denk- und Lebensweise dieser Einsicht angleiche, wo immer ich einen
Konflikt angetroffen zu haben meine, desto früher werde ich
die Heilende Kraft dieser Denkweise erfahren können.
Früher meinte ich, ich sei verantwortlich für meine
Lebensweise, für was ich tu, für mein Handeln, aber
nicht für was ich denke. Aber die Wahrheit ist, dass
wir verantwortlich sind für unsere Gedanken, weil
unser Handeln daraus fliesst, was wir denken.
Nun noch eine Schlussbemerkung: Glaubt nicht, ich hätte je
selbst eine Erfahrung mystischer Einheit kennen gelernt. Ich
habe einen Freund, der einmal, vor mehr als 30 Jahren, von einer
solchen heimgesucht worden ist.5 Ihm
genügt es
für sein ganzes Leben, jene eine Erfahrung zu erinnern und zu
meditieren. Mir genügt es vollkommen, davon zu wissen.
Es gibt etwas, das die Erfahrung der Einheit begleitet und das
mindestens ebenso wichtig ist: Das ist die Erfahrung der
Reinigung des Herzens; das ist die Erfahrung
vollständiger und unbedingter Vergebung. Es gibt keine echte
Einheit ohne Reinigung des Herzens und unbedingte
Vergebung.5 Dies
führt dann 'zu einer
lebhaften und überwältigenden Gewissheit, dass das
Universum, genau wie es in diesem Moment ist, als Ganzes und in jedem
seiner Teile, so vollkommen richtig ist, dass es keinerlei
Erklärung oder Rechtfertigung über das hinaus, was es
einfach ist, bedarf.' xi
Gesegnet sind, die reinen
Herzens sind; sie werden Gott schauen. xii
Wenn dein Auge eins ist, wird dein ganzer Leib Licht sein,
wenn es aber entzweit ist, ist dein Leib Finsternis.
Wenn nun dein ganzer Leib Licht ist, ohne einen finstern Teil,
wird er ganz voll Licht sein,
wie wenn der helle Schein einer Lampe dich ganz erleuchtet.xiii
Es gibt Leute, die jeden Tag meditieren ohne einen inneren Fortschritt
zu machen. Die Erfahrung mystischer Einheit ist nur gerade
der Anfang des Lebens als Mystiker. Ich danke Euch, dass Ihr
mir verzeiht, das gesagt zu haben.
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viii.
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xi.
xii.
xiii. |
A Course in
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Abulafia, in Sholem, G. 1962: Major Trends in Jewish Mysticism, (NY),
quoted from Wolpert 1996 (Ref. 5).
Plotinus, quoted from Wolpert 1996 (Ref. 5).
Buber, M. 1909: Ekstatische Konfessionen, (1984: 5th Ed., Schneider,
Heidelberg).
Wolpert, A., 1996: A Meditation on Mystical Union Using System
Dynamics,
awolpert@world.std.com; http://world.std.com/~awolpert .
Kolakowski, L. 1982: Religion, Fontana (Glasgow), quoted from Wolpert
1996 (Ref. 5).
Heschel, A. 1955: God in Search of Man, Farrar, Straus & Cudahy
(NY), quoted from Wolpert (Ref. 5).
Weischedel, W. 1975: Die philosophische Hintertreppe / 34 grosse
Philosophen in Alltag und
Denken, dtv (München).
Soweit basiert Abschnitt 4 auf: Staindl-Rast, D. 1985, Wissenschaft und
Religion, Vortrag, Cortona
Woche der ETH Zürich über Naturwissenschaft und die
Ganzheit des Lebens; vergl. auch:
Fowler, J. W. 1981: Stages of Faith, Harper & Row (NY); 1991:
Stufen des Glaubens, Mohn (Gütersloh).
Kyprianidis, A. & Vigier, J.P. 1988: 'Quantum
Action-at-a-Distance: The Mystery of Einstein-
Podolsky-Rosen Correlations', Quantum Mechanics Versus Local Realism,
The Einstein-Podolsky-
Rosen Paradox, Plenum (NY).
Bucke, R. M. 1901: Cosmic Consciousness, Innes (Philadelphia).
Matth. 5:8.
Luk. 11:34-36. |